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Vom Abolitionismus zur Bewegungsfreiheit? Geschichte und Visionen antirassistischer Kämpfe

Eröffnungsbeitrag auf der 1. noborder lasts forever Konferenz.
PDF: français, english, deutsch

I. Einleitung

Der Schengener Raum ist nicht nur eine grenzpolizeiliche Einzäunung Europas, sondern auch der Ort, an dem Europas postkoloniales Erbe Gestalt annimmt. Denn mit den MigrantInnen migriert nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihr Streben nach Freiheit – sei es, weil dieses Europa unsere Länder zerstört oder weil wir die Grenzen dieses Europas zerstören. Das Streben nach Freiheit war in der älteren und jüngeren Vergangenheit der Motor für den Abolitionismus d.h. die Abschaffung der Sklaverei und die Anti-Apartheitskämpfe in Südafrika. Diese Kämpfe um Freiheit haben den Rassismus der Sklavenhalter besiegt und die letzte Bastion rassistischer Segregation in Afrika gestürmt. Wir stehen somit wahrlich auf den Schultern eines Giganten. Es ist dieses postkoloniale Erbe Europas, das wir antreten wollen, um das Töten an den Grenzen Europas zu beenden und das Elend der Illegalität abzuschaffen.

Dieses Erbe anzutreten, heißt eine Gemeinschaft anzustreben, zwischen uns und all den Tausenden, die durch die elende Hintertür Europas kommen. Diese Menschen tragen das postkoloniale Erbe in sich und sind somit Zeugen dieser Geschichte. Diese angestrebte Gemeinschaft hat ein Gesicht, einen Akzent, eine Haut und eine postkoloniale Geschichte: es ist die Gemeinschaft, der nach Europa kommenden, der schon lange Angekommenen. Es wäre die Gemeinschaft derer, die einen Kampf führen – an den Grenzen Europas und in den Vorstädten. Dieser Herausforderung wollen wir uns stellen – by any means necessary.

II. Südafrikanische Apartheid und Kampf um Bewegungsfreiheit

Als Nelson Mandela den bewaffneten Arm der ANC „Umkonto we Sizwe“ gründete und das Ende des Dialogs mit der südafrikanischen Apartheid deklarierte, ahnten nur wenige die kommende Macht eines schwarzen Antirassismus, der nicht nur das Regime der Rassentrennung beseitigte sondern, so Achille Mbembe, der Welt eine neue Freiheit schenkte: die wirkliche Freiheit von Rassenzuschreibungen (freedom from race). Diese neue Freiheit ist in Südafrika buchstäblich in den Kämpfen für Bewegungsfreiheit entstanden, weil Rassentrennung nicht einfach eine Ungleichheit zwischen Black und White markierte. Rassistische Segregation ist mehr als rassistische Diskriminierung. Um das rassistische Ethos der Weißen zu schützen, das heißt ihre fehlende menschliche Verbundenheit mit dem Leid der Schwarzen, reichte die Waffe der „weißen Privilegien“ nicht aus.

Apartheid war eine skurrile Grenze. Sie wies den schwarzen Körpern der Vielen eine sichtbare Grenze ihrer Arbeitskraftmobilität zu. Die Abschaffung der Apartheid lehrt uns die schmalen Pfade zu sehen, die den Antirassismus der Gegenwart mit der machtvollen Geschichte des Abolitionismus verbinden: den Antirassismus der Tat, den Antirassismus für Bewegungsfreiheit.

III. Ökonomie des Rassismus:

Von den Sklavengesellschaften bis zur globalen Apartheid

Sklaverei ist der Zustand, in dem Menschen als Eigentum anderer behandelt werden, um Zugriff auf ihre Arbeitskraft zu erlangen.“ In Sklavengesellschaften beruhen die zentralen Produktionsprozesse auf der Arbeitskraft von Sklaven. Zuckerrohr, Tabak, Reis und Baumwolle –  mit der Plantagenökonomie wuchs die Zahl der Sklaven in den Südstaaten bis Mitte des 19. Jahrhunderts  auf mehr als vier Millionen an. Die ganze Kolonisierung Amerikas vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ging mit einer Massenversklavung von Afrikanern und Afrikanerinnen einher, die in allen Teilen des dünn besiedelten Doppelkontinents als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Dies betrifft nicht nur die Kolonien, aus denen später die USA entstanden sind, sondern in noch größerem Umfang Brasilien und die Karibik. In den mehr als drei Jahrhunderten des Sklavenhandels waren schätzungsweise 35.000 atlantische Sklavenschiffe unterwegs, allein auf der sog. „Middle Passage“ zwischen Afrika und Nordamerika wurden 11 Millionen Gefangene verschleppt.

Aber auch ein zentrales Element der Apartheid in Südafrika bestand darin, billige Arbeitskräfte aus den sogenannten Homelands oder aus den abgetrennten Townships für die miesesten und schlechtbezahltesten Jobs zur Verfügung zu haben: von der Arbeit in Minen und Bergwerken bis zur Dienerei in den Haushalten. Apartheid war in Südafrika vor allem ein Konzept, um die schwarze Bevölkerung z.B. mit Passgesetzen rechtlos zu machen und sie einer rassistisch strukturierten Ausbeutung zu unterwerfen.

Wenn wir heute von Systemen globaler Apartheid sprechen, stellen wir die Frage, ob wir  etwas ähnliches auf eine globale Ebene hochkopiert sehen: in den Zonierungen durch die Grenzregimes, im Konzept der „selective inclusion“, also der gezielten Auswahl, der Filterfunktion, in den konstruierten Hierarchien mit wenigen, etwas mehr oder gar keinen Rechten für MigrantInnen, Flüchtlinge, Geduldete oder Illegalisierte.

Unser Vorschlag wäre den Kapitalismus von seinen Rändern her zu lesen. Das bedeutet, dass die Versuche Arbeitsmobilität dem Migrationsregime unterzuordnen, immer wieder in den Kämpfen für die Befreiung der Arbeitskraftmobilität zum Scheitern gebracht wurden. Um diesen Blick von den Rändern zu veranschaulichen, wenden wir uns der  Vergangenheit zu:

IV. Abolitionismus

„Irgendein Mensch sollte darum besorgt sein, diesem Schrecken ein Ende zu machen“. Im Juni 1785 ließ dieser Gedanke den damals 25 jährigen Thomas Clarkson nicht mehr los. Clarkson hatte zuvor an einem Essay-Wettbewerb der Cambridge University zu dem Thema „Ist es rechtmäßig, einen Menschen gegen seinen Willen zu knechten?“ teilgenommen, und während seiner Recherchen für ihn unfassbares erfahren: Es ist der Handel mit Menschen, ihre Versklavung und nicht zuletzt die Erzeugnisse ihrer Zwangsarbeit, welche die Quelle des Wohlstands und Luxus im britischen Empire und darüber hinaus der anderen bedeutenden europäischen Seefahrer- und Handelsnationen bilden.

Zwei Jahre nach dieser Erkenntnis und dem Entschluss, dass er selbst als dieser „Irgendjemand“ handeln musste, gründete er zusammen mit dem Anwalt Granville Sharp und einer Gruppe von Quäkern die Society for Effecting the Abolition of Slavery (Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei). Durch großangelegte Aufklärungskampagnen zu denen auch die Lesungen von Olaudah Equiano gehörten, einem ehemaligen Sklaven, der mit seiner Autobiographie durch England tourte, durch die Gründung von lokalen Gruppen um Unterschriften für Petitionen zu sammeln, durch das gezielte suchen und sammeln von Zeugenaussagen britischer Matrosen und Schiffsärzte über die Verhältnisse auf den Sklavenschiffen und durch einen landesweiten Zuckerboykott an dem jeder und jede Einzelne Bürger und Bürgerin sich beteiligen konnte, wurde 1807 mit der Verabschiedung des Slave Trade Act die gesetzlichen Aufhebung des Sklavenhandels erreicht. So wichtig die Arbeit der Society for Effecting the Abolition of Slavery auch war um dieses Thema auf die politische Agenda des Empire zu setzen, waren die meisten Mitglieder doch hauptsächlich konservative männliche Angehörige der britischen Oberschicht. Dieser Schicht gehörten auch die Profiteure des Sklavenhandels und der Sklaverei an, die durch finanzstarken Lobbyismus dafür sorgten, dass spätestens im Oberhaus jede Gesetzesvorlage zur Abschaffung ihrer Einnahmequelle abgeschmettert wurde. Schon die Umbenennung der Abolitionisten in „Verein für die Mäßigung und stufenweise Abschaffung des Zustandes der Sklaverei in allen britischen Herrschaftsgebieten“ zeigt, dass die Forderungen der Abolitionisten nicht weit genug gingen. Den Kampf zur Abschaffung der Sklaverei auch als Kampf für Emanzipation zu verstehen und diesen in den Kontext von Forderungen nach Frauenrechten und einem allgemeinem Wahlrecht – das zu jener Zeit nur für Männer gefordert wurde – zu stellen, war für einige Gegner der Sklaverei ein undenkbarer Verstoß gegen ihre konservativen Wertevorstellungen.

Die Feministin und Abolitionistin Elizabeth Heyrick sprach für viele Frauen und Männer der abolitionistischen Bewegung, (der jüngeren Generation der Abolitionisten) als sie ihr Pamphlet „Immidiate, not Gradual Abolition“ die sofortige Abschaffung der Sklaverei forderte. Mit diesem Anspruch entstanden in den 1820er Jahren mehr als 70 von Frauen gründete Gesellschaften gegen die Sklaverei. Elizabeth Heyricks war es auch, die offen ihre Solidarität für die revoltierenden Sklaven in Barbados, Grenada, Trinidad, Jamaika, St. Domingue – das heutige Haiti – und anderen damaligen europäischen Kolonien bekundete und diese als Kämpfe „im Namen der Selbstverteidigung vor erniedrigender unerträglicher Unterdrückung“ sah. Dort nahmen die Sklaven, wie sie es seit Beginn der Sklaverei schon immer getan haben, selbst die Waffen in die Hände, um sich ihre Freiheit zu erkämpfen. Leonard Parkinson, Toussaint d’Overture und viele andere führten die Rebellionen an und schufen mit Haiti den ersten  unabhängigen Staat .

Durch diese gemeinsamen Kämpfe an den unterschiedlichen Orten des Empire blieb London nach Jahrhunderten der Sklaverei nichts anderes übrig, als am 26. Juli 1833 den Slavery Abolition Act zu verabschieden und damit vom 1. August 1834 alle Sklaven im britischen Kolonialreich für frei zu erklären.

Während in der revolutionären Karibik die Sklaven das Plantagensystem ausser Kraft setzten, entfaltete sich in den USA ein militantes abolitionistisches Netzwerk. Entlaufene Sklaven und weiße Abolitionisten schufen gemeinsam die Underground Railroad, ein einmaliges Fluchtnetzwerk von den Plantagen der Südstaaten in die kanadische Freiheit….

V. Underground Railroad

 

Toni Morisson beschreibt in ihrem Roman „Menschenkind“ die Flucht einer Frau aus den Südstaaten: „Er schlug Paul A. Nicht sehr und auch nicht lang, aber es war das erste Mal, dass ihn jemand geschlagen hatte, weil Mr. Garner das nicht zuließ. Als ich Paul das nächste Mal sah, befand er sich in Gesellschaft und zwar in den schönsten Bäumen, die du je gesehen hast. Da fing Sixo an, den Himmel zu beobachten. Er war der einzige, der sich nachts davonschlich und Halle meinte, so hätte er auch von dem Zug erfahren. „Dort.“ Hall deutete über den Stall hinweg. „Wo er meine Ma’am hingebracht hat. Sixo sagt, in der Richtung ist die Freiheit. Ein ganzer Zug geht dorthin, und wenn wir es bis dort schaffen, dann brauchen wir das Loskaufen nicht.“ „Zug? Was für ein Zug?“ fragte ich ihn. Da hörten sie auf in meiner Gegenwart davon zu reden. Sogar Halle. Aber sie flüsterten miteinander und Sixo beobachtete den Himmel. Nicht den hohen Teil, sondern den niedrigen, da, wo er and die Bäume stieß. Man merkte, dass er in Gedanken schon fort war von Sweet Home.“

Dieser Zug, auch als Underground Railroad bekannt, bestand aus einem Netz geheimer Routen, Schutzhäuser, unzähligen FluchthelferInnen und einem beeindruckend dichten Kommunikationsnetz (und das vor der Verbreitung des Telefons!) – sie war mehr ein informelles militantes Netzwerk, als eine Organisation im engeren Sinne. Zwischen 1810 und 1850 dürften etwa 100.000 Sklaven die Underground Railroad zur Flucht genutzt haben. Aktiv war sie wohl mehr als ein halbes Jahrhundert – etwa 1780 gegründete bestand sie bis 1862.

Die Fluchtwege waren höchst unterschiedlich. Eine der unglaublichsten und daher häufig erzählten Geschichten war die Reise eines geflohenen Sklaven namens „Brown“ der als „Box Brown“ erinnert wird und tagelang in einer Postkiste vernagelt, mal aufrecht, mal liegend, mal über kopf verladen auf dem Weg gen Norden war. Auf einem der Bilder im Loop hier hinter uns, ist er beim Aussteigen aus der Kiste dargestellt.

Oft wurden den Fliehenden mittels in Gospeln verpackte, gesangliche Botschaften Zeit und Ort der Flucht kommuniziert. Manchmal wurden die fliehenden SklavInnen von FluchthelferInnen (manchmal freien Schwarzen, die sich dann selbst als Sklaven ausgaben) vom Gelände der Sklavenbesitzer gebracht. Unterwegs fanden sie bei verschiedenen Stationen der Underground Railroad Schutz. Es waren unter anderem alte Bahnhöfe, Scheunen und Häuser von Mitgliedern der Underground Railroad. Die auf Karten verzeichneten Routen lassen ansatzweise die Dichte des Netzes von UnterstützerInnen erahnen, manchmal freie Schwarze, oftmals Quäker, die sich sicher waren im Sinne ihres Glaubens zu handeln. Nachdem die Flüchtlinge außer Reichweite der vormaligen Besitzer bzw. der Kopfgeldjäger waren, wurden sie mit Hilfe von Spendengeldern neu gekleidet, so dass sie beim späteren Gebrauch von Zügen und Schiffen nicht auffielen.

Eine der bekanntesten und erfolgreichsten „Conductor“ der Underground Railroad war Harriet Tubman. „Conductor“ also „Schaffner“ wurden die Fluchthelfer genannt, die die fliehenden Sklaven häufig nachts Richtung Norden führten. Der Nordstern diente zur Orientierung der meist nächtlichen Wege. Mit 29 Jahren floh Harriet Tubman selbst aus der Sklaverei, danach kehrte sie viele Male zurück, um anderen bei der Flucht zu helfen. Dabei benutzte sie den Codenamen „Moses“ und war eine der wenigen, die das Risiko, entdeckt zu werden und zu ihrem früheren Besitzer zurück zu kommen, auf sich nahm. Sie soll zwischen 1815 und 1825 geboren worden sein und starb am 10. März 1913. Harriet Tubman starb arm, aber im Kreis vieler FreundInnen und wurde erst nach ihrem Tod zu einer der bekanntesten Figuren in der amerikanischen Geschichtsschreibung. Neben ihrer Rolle als „Moses“, der Schaffnerin der Untergrundbahn, die nie eine/n Reisenden verlor, hat sie später im Bürgerkrieg gekämpft und wurde zu einer wichtigen Stütze der frühen Frauenbewegung.

VI. Welcome to Europe

Warum diese Reise in die Vergangenheit? Es ist die strategische und letztlich erfolgreiche Verschwörung zur Abschaffung des Sklavenhandels. Es ist das Bewegen entlang des Grats zwischen Paternalismus und direkter Unterstützung. Es ist das Zusammenspiel von Bewegung und Revolte, das uns berührt. Und es ist nicht zuletzt die Entschiedenheit einer Unterstützungsstruktur wie der Underground Railroad, die uns  – seitdem wir begonnen haben in der Geschichte zu wühlen – irgendwie nicht loslässt. Mit diesem Blick zurück suchen wir nach Fixsternen in der Historie antirassistischer Kämpfe. Es ist immer wieder aufregend dabei die Entdeckung zu machen, dass andere auf ähnliche Weise davon getrieben sind:

Im September standen wir vor einer Pinnwand im Nobordercamp in Brüssel und durch Zufall stachen uns die Guidelines zur Pressearbeit ins Auge: und darin wird vorgeschlagen, auf die Frage, ob Noborder denn nicht eine utopische Vorstellung sei, mit der Erfahrung des Abolitionismus zu kontern. Dass die Sklaverei abgeschafft werden könne, wurde ja zu Beginn der abolitionistischen Bewegung auch als völlig utopische Idee einiger Verrückter abgetan – doch weniger als eine Generation später war der erste Schritt zur Abschaffung getan und der Sklavenhandel bereits Geschichte.

Zum Weltsozialforum in Dakar/Senegal ist – ausgerechnet auf der Dakar vorgelagerten Insel Gorée – die Unterzeichnung/Verabschiedung einer „Globale Charta der MigrantInnen“ geplant. Das ganze soll auf einem Strategie-Kongress stattfinden, initiiert von selbstorganisierten MigrantInnengruppen. Gorée gilt in Westafrika als das Symbol für den Sklavenhandel, von hier legten bis zur Abschaffung des Sklavenhandels 1848 Sklavenschiffe ab, ein Modell dieser Schiffe war es, das die Abulitionisten für die wahrscheinlich erste Plakatkampagne nutzen. Gorée ist mit Sicherheit nicht der Hauptumschlagplatz des Sklavenhandels in Westafrika gewesen – dennoch bleibt es ein symbolisch aufgeladener Ort – an der Küste Senegals, vor der heute Frontex patrouilliert, um MigrantInnen zu stoppen.

Auf der Suche nach Material für den Webguide „Welcome to Europe“, einen Ratgeber für MigrantInnen auf dem Weg durch Europa, finden wir schließlich eine spanische Orientierungshilfe für Bewegungsfreiheit, ein Reader der Anlaufstellen für Papierlose nennt. Die spanischen FreundInnen leiten die Broschüre ein mit den folgenden Worten: „Vor mehr als einem Jahrhundert machten sie sich auf den Weg, hunderte gar tausende schwarzer Männer und Frauen. Sie unternahmen eine unsichere Reise, nach Norden nach Kanada, die sie weit fortbringen sollte von der Plantagenökonomie und ihrem Sklavensystem – eine Reise Richtung Freiheit. Hunderte schwarzer und weißer Frauen und Männer organisierten Unterstützung auf dieser Reise, sie gründeten, was als die „Underground Railroad“ große Bekanntheit erlangte. Heute gibt es kein Land der Freiheit, welches Kanada für diese Frauen und Männer repräsentierte. Trotzdem machen sich tausende von Frauen und Männern auf eine vielleicht noch unsicherer Reise in Richtung Norden. Manche lassen Unterdrückung und Ausbeutung hinter sich, manche suchen einfach einen Traum oder ein besseres Leben. Dutzende Frauen und Männer wollen sie auf dieser Reise unterstützen, eine Reise auf die wir alle ein Recht haben. Dieser Ratgeber ist eine Art Unterstützung anzubieten.“

Die Reise auf die alle ein Recht haben – und die Forderung das Töten an den Grenzen Europas zu beenden und das Elend der Illegalität abzuschaffen – das mag vielleicht genauso utopisch klingen wie damals die Abschaffung der Sklaverei. Können wir Schengen wie die Sklaverei abschaffen? Ist es notwendig sich dem heutigen Legalismus der Kriminalisierung vorrangig entgegenzustellen? „Migration is not a crime“, weil kein mensch illegal ist?

Mit den MigrantInnen migriert nicht nur ihre Arbeitskraft sondern auch ihr Streben nach Freiheit, so haben wir diese Reise in die Geschichte der Kämpfe begonnen. Es ist dieses Streben nach Freiheit, dass uns auf die Suche nach den Visionen vergangener Kämpfe getrieben hat. Thomas Clarksons Erkenntnis, dass die einzige logische Schlussfolgerung aus dem Schrecken nur sein kann, ihm ein Ende zu setzen, ist bestechend einfach – und war bei genauerer Betrachtung auch zu seiner Zeit sicherlich nicht völlig neu, auch wenn er vielleicht einer der ersten Vollzeitaktivisten gewesen sein dürfte. Es ist dieses Streben nach Freiheit mit dem wir gemeinsam auf die Suche gehen wollen.

„No Border lasts forever!“ – Erste Eindrücke und Kurz-Infos zur Frankfurter Konferenz

Freitag Abend war der Festsaal an der Frankfurter Uni mit 300 ZuhörerInnen gut voll, sowohl der historisch-visionäre Einleitungsbeitrag zu Abolitionismus und Bewegungsfreiheit als auch das Kaleidoskop mit zehn kurzen Bilderbeiträgen (Pecha Kuchas) zu verschiedenen antirassistischen Netzwerken und Kampagnen fand viel Interesse und Anklang.

Bis zu 250 Leuten beteiligten sich am Samstag und Sonntag an Plenas und Workshops. In der Zusammensetzung der Konferenzbeteiligten spiegelte sich die Unterschiedlichkeit der aktivistischen Spektren der antirassistischen Bewegung wider und auch eine Reihe neuer Gruppen und Initiativen waren vertreten.

Auf der Webseite findet sich inzwischen der zu Beginn der Konferenz verteilte Reader, der demnächst zu einer Art „Gelbe Seiten“ der antirassistischen Bewegung ausgebaut werden soll. Eventuell gekoppelt mit einer übergreifenden virtuellen Antira-Plattform, in der überregional bedeutende Termine gesammelt werden.

In den meisten der 13 AGs gab es weitergehende Verabredungen zu Folgetreffen oder sogar gemeinsame Aktionsvorschläge. So soll es z.B. am Dienstag, den 22.3.2011, einen bundesweiten Aktionstag gegen Lager geben.

Ein Vorschlag für eine große gemeinsame Aktion für 2011 hat sich im Abschlussplenum (erwartungsgemäß) erstmal nicht entwickelt. Doch die Konferenz konnte und wollte zunächst das gemeinsame vielfältige Potential spürbar machen und mit übergreifenden Vernetzungsprozessen der Zersplitterung entgegenwirken. Beides dürfte in den drei Tagen in Frankfurt gut gelungen sein, Zufriedenheit bis Begeisterung war die überwiegende Stimmung in der Abschlussrunde.

Dementsprechend wurde von vielen Seiten befürwortet, für das nächste Jahr (evt. im November 2011) eine Folgekonferenz mit einer breiter getragenen Vorbereitung zu planen.

Am Sonntag, dem 13. März 2011, wird im Rahmen eines Wochenendtreffens des Netzwerks „Welcome to Europe“ die Gelegenheit sein, die Frankfurter Konferenz nachzubereiten und über Zeit und Ort der Folgekonferenz erste Vorentscheidungen zu treffen.

Finally: Die große Spendenbereitschaft sowie Zuschüsse der Asta-Fachschaften und von medico international haben die weitgehende Deckung aller Kosten der Konferenz ermöglicht. Dafür in alle Richtungen ein Dankeschön.

Beste Grüße vom Konferenzteam

P.S.: Absehbar sollen auf der Konferenzwebseite auch die 10 Pecha-Kucha-Beiträge sowie sonstige Inputs veröffentlicht werden.  Solltet Ihr aus den AGs Vorschläge haben, die Ihr gerne auf der Webseite veröffentlichen möchtet, mail sie uns gerne an conference@w2eu.net.

No Border lasts forever in Analyse und Kritik

Analyse und Kritik – November 2010

No Border lasts forever* (I)

Transnationale Protestaktionen führen 2011 nach Westafrika

Warschau, Istanbul und ägäische Inseln, Oujda in Marokko: Nicht zufällig lagen die meisten Stationen einer transnationalen Aktionskette der letzten Monate an oder sogar jenseits der Außengrenzen der EU. Und sie hatten einen gemeinsamen Fokus: Frontex. Im Kampf um globale Bewegungsfreiheit wird die europäische Grenzschutzagentur 2011 erneut zum Ziel von Protestaktionen: in Mali und im Senegal.

Welcome to Europe – kurz: w2eu – nennt sich das kleine, aber rege bundesweite Netzwerk antirassistischer Gruppen, das sich 2009 rund um die Mobilisierung zum Nobordercamp in Griechenland formiert hatte. Lesbos steht nicht nur für einen erfolgreichen Kampfzyklus gegen die Internierung an den EU-Außengrenzen (vgl. ak Nr. 544). Bis heute sind viele der am Infopunkt von Mytilini geknüpften Kontakte mit Flüchtlingen und MigrantInnen nicht abgerissen, vielmehr finden sie im Widerstand gegen die Dublin-II-Verordnung quer durch Europa ihre Fortsetzung.

Und diesem anhaltenden „Lesbos-Impuls“ war es auch geschuldet, dass w2eu im April dieses Jahres einen Aufruf verbreitete, mit dem versucht wurde, eine ganze Kette von Mobilisierungen unter dem Titel „5 Jahre Frontex – 5 Jahre Ceuta und Melilla“ inhaltlich und praktisch zu verknüpfen.

Sieben Stationen von Warschau bis Oujda

Im Mai gelang in Warschau die zumindest symbolische Störung einer Frontex-Propagandaveranstaltung zu ihrem 5-jährigen Bestehen. Mehrere Firmen, von Frontex eingeladen, präsentierten ihre Grenzüberwachungstechniken, als ein Go-In mit Megaphondurchsagen und Transparenten für einigen Wirbel sorgte.

Im Juni gab es in London und am Wiener Flughafen Proteste, die sich gegen die zunehmend von Frontex finanzierten und koordinierten Charterabschiebungen richteten. Gleichzeitig fand in Jena das Karawane-Festival zum Gedenken an die Toten der Festung Europa statt. In einer beeindruckenden, vor allem von selbstorganisierten Flüchtlingen gestalteten Maskenparade wurde nicht zuletzt Frontex als „Jäger der Boatpeople und Sans-Papiers“ denunziert.

Anfang Juli fand das 6. europäische Sozialforum (ESF) in Istanbul statt und damit erstmals außerhalb der EU-Grenzen. Menschen fliehen aus und zunehmend über die Türkei, das Land hat sich in den vergangenen Jahren zu einer zentralen Transitstation der Migration entwickelt. Die EU macht auf allen Ebenen Druck, am Bosporus einen neuen Wachhund zu formieren, Frontex führt direkte Kooperationsverhandlungen. Vor diesem Hintergrund gab es nicht nur eine Reihe von Migrations-Workshops auf dem ESF, sondern auch eine kleine, aber powervolle Demonstration vor einem Abschiebegefängnis, bis vor kurzem nach offizieller Sprechweise „Guesthouse“ genannt.

Ende August startete mit Swarming Noborder ein kleines, dezentrales Folgeprojekt des Lesbos-Camps. Allerdings hatte sich in diesem Jahr die zentrale Flüchtlingsroute nicht nur für Frontex sondern auch für uns überraschend schnell und massiv von den Inseln auf die Festlandgrenze zwischen der Türkei und Griechenland verschoben (1). Fast keine Flüchtlinge kamen auf den Inseln an, insofern blieben auch die geplanten Protestaktionen sehr symbolisch.

Ende September begann in Brüssel ein Nobordercamp, aus dem heraus trotz aller Repressionen (siehe letzter ak 554) u.a. eine hochrangige Frontex-Tagung gestört werden konnte.

Schließlich fand Anfang Oktober in Oujda in Marokko eine Konferenz zum 5. Jahrestag der tödlichen Ereignisse in Ceuta und Melilla statt. Öffentlichkeitswirksam vorbereitet gelang es damit nicht nur – u.a. mit einem Vortrag eines damals beteiligten Flüchtlings – die mörderischen Konsequenzen der EU-Migrationspolitik sowie die Kollaboration der marokkanischen Regierung in Erinnerung zu halten. Erstmals war  es auch möglich, die Kritik an Frontex in den wichtigsten marokkanischen Fernsehsender zu bringen. Für die interne Vernetzung war zudem von Bedeutung, dass zahlreiche Selbstorganisationen von Flüchtlingen aus Rabat vertreten waren, aber auch Aktivisten aus Mauretanien und Mali.

Next Stations: Bamako und Dakar

Denn die (migrationsbezogene) euro-afrikanische Kooperation, die sich in den letzten Jahren mit gegenseitigen Besuchen stabilisiert hatte, steuert für Anfang 2011 auf ein neues transnationales Projekt zu. Im jungen Netzwerk Afrique-Europe-Interact ist eine Karawanetour für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen in Vorbereitung, die in der malischen Hauptstadt Bamako starten wird. Die AME (2), über viele Jahre aktiv, bildet den organisierenden Kern. Geplant sind mindestens 5 Stationen einer Bustour, die mit dem Untertitel „für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung“ nicht allein Migrationsfragen, sondern auch deren Hintergründe wie z.B. die Situation in der Landwirtschaft oder den Klimawandel thematisieren wird. Nicht zufällig endet die Route in Dakar, der senegalesischen Hauptstadt, in der Anfang Februar das nächste Weltsozialforum stattfindet. Migration und Entwicklung sind dort bereits als zentrale Schwerpunkte gesetzt, und die Karawanetour will mit dafür sorgen, dass die Kritik am EU-Grenzregime, das mit der Frontex-Operation Hera unmittelbar vor der Küste Senegals präsent ist, möglichst laut und scharf sein wird.

Aus Deutschland wird sich eine mindestens 30-köpfige Delegation auf den Weg nach Westafrika machen, darunter einige (Ex)Flüchtlinge, die hier in den letzten Jahren die antirassistischen Kämpfe mitgetragen haben und ihre unmittelbaren Erfahrungen in den direkten Austausch mit den AktivistInnen in Afrika einbringen wollen (siehe: http://www.afrique-europe-interact.net/).

h., kein mensch ist illegal/Hanau

Anmerkungen:

* In der Doppeldeutung von „keine Grenze ist für immer“ und „No Border-Kämpfe gehen immer weiter“.

(1) Ende Oktober hat die griechische Regierung die schnellen Eingreiftruppen von Frontex angefordert, der erste Einsatz dieser sog. „Rapids“, siehe auch w2eu.net

(2) AME: Assoziation der Abgeschobenen aus Mali

No Border lasts forever (II)

Konferenz zu Bilanz und Perspektiven antirassistischer Bewegung

Visionen, Vernetzung, Verbreiterung – gleich drei Vs stehen für die Zielsetzungen einer ambitionierten bundesweiten Konferenz, die vom 10. – 12.12. in Frankfurt am Main stattfinden wird.

Die Initiative entstand im Welcome to Europe-Network, doch dem Programm ist zu entnehmen, dass verschiedenste antirassistische Projekte, Kampagnen und Netzwerke am Vorbereitungsprozess beteiligt sind oder jedenfalls ihre Kommen zugesagt haben. Das erscheint umso bedeutender als die Frage nach „Vielfalt oder Zersplitterung“ zwar keine neue aber auch keine überholte ist im Feld von Flucht und Migration. In vielen Städten arbeiten Initiativen zu ganz unterschiedlichen Themen, doch die Kluft zwischen Gesamtpotential und realer gemeinsamer oder zumindest aufeinander bezogener Praxis wird deutlich, wenn auch die breiter angelegten Mobilisierungen der vergangenen Jahre selten über einige hundert TeilnehmerInnen hinauskommen.

Vielfalt oder Zersplitterung“

Anfang Juni fand in Jena das Karawane-Festival statt, an dem sich etwa 6-800 AktivistInnen vor allem aus dem Spektrum der Flüchtlings-Selbstorganisationen und einiger Antira-Gruppen beteiligten. Gleichzeitig trafen sich die medizinischen Unterstützungsprojekte aus 25 Städten zu einem Bundestreffen in Leipzig. Einen gegenseitigen Bezug gab es nicht, womöglich wussten Teile der jeweiligen TeilnehmerInnen schlichtweg nichts von dieser Parallelität.

Oder: In 5 Städten gibt es mittlerweile gewerkschaftliche Anlaufstellen für MigrantInnen mit und ohne Papiere. Das zeigt, dass zumindest in Teilen der Gewerkschaften ein inklusiver Umgang mit der (illegalisierten) Migration gesucht wird, und ist gleichzeitig ein allgemeiner Ausdruck für eine zunehmende Tendenz der Entkriminalisierung hierzulande. Doch diese Arbeit erscheint völlig getrennt von den vielfältigen Recherche- und Unterstützungsprojekten an den EU-Außengrenzen, wo die Kontrolle und Kriminalisierung der Migration – bis hin zur tödlichen Abschreckung gegenüber den Boatpeople –  seit Jahren eskaliert.

Die Frankfurter Konferenz zielt nicht nur auf eine stärkere gegenseitige Bezugnahme im „Kaleidoskop des Antirassismus“, wie der Titel einer Auftaktveranstaltung (am Freitag Abend) überschrieben ist. Inhaltliche Verknüpfungen entwickeln sich nicht zuletzt mit den persönlichen Kontakten, somit geht es gleichzeitig um ein verbreitertes Zusammentreffen unterschiedlicher Akteure. AktivistInnen aus dem Spektrum von kein mensch ist illegal oder der Karawane treffen regelmäßiger aufeinander. Doch im Dezember kommen ebenfalls Aktive von den Jugendlichen ohne Grenzen (JoG) oder vom akademischen Netzwerk „kritnet“ hinzu. Und mit medico international ist eine NGO mit auf dem Podium, die über ihren radikalen entwicklungspolitischen Ansatz  in migrationspolitische Projekte eingestiegen ist.

Multitude des Antirassismus?

„Für eine Multitude des Antirassismus?“ lautet denn auch die Leitfrage der Talkshow (am Samstag Abend), in der über Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ansätze und Herangehensweisen diskutiert wird. Die antirassistische Bewegung ist in den letzten Jahren (noch) vielfältiger und auch wieder jünger geworden. Frankfurt wurde u.a. deswegen als Konferenzort gewählt, weil hier – entlang der Mobilisierung nach Calais – eine neue Noborder-Gruppe entstanden ist, und im September eine gewerkschaftliche Anlaufstelle – MigrAr FfM – eröffnet hat. Die Chancen stehen gut, dass nicht nur aus Rhein-Main einige (Neu)Interessierte der Einladung folgen. Die Vortragsformate wie auch Informationsstände und ausreichende Pausenzeiten sind darauf angelegt, den Zugang zu den komplex erscheinenden Strukturen des Antirassismus zu ermöglichen bzw. eingefahrene Strukturen aufzubrechen.

Es wird in Frankfurt zwar Übersetzungen geben, aber Gäste aus anderen Ländern wurden nicht extra eingeladen, um die Konferenz nicht mit Ansprüchen zu überladen. Das Programm spiegelt gleichwohl wieder, dass antirassistische Bewegung nur in transnationaler Perspektive gedacht und praktiziert werden kann. Ein entsprechendes transeuropäisches Kontaktnetz ist in den letzten Jahren weiter gewachsen und hatte mit dem Nobordercamp auf Lesbos 2009 einen weiteren Schub bekommen. Seinen Ausdruck findet das in einem neuen, im Aufbau befindlichen Webguide unter www.w2eu.info, der in vier Sprachen betroffenen Flüchtlingen und MigrantInnen Zugang zu regionalen Unterstützungsprojekten und verbindliche Informationen quer durch Europa bieten will. Ein Ziel der Dezember-Konferenz ist insofern, die Netzpunkte und -knoten in Germany zu verdichten.

h., kein mensch ist illegal/Hanau