No Border lasts forever in Analyse und Kritik

Analyse und Kritik – November 2010

No Border lasts forever* (I)

Transnationale Protestaktionen führen 2011 nach Westafrika

Warschau, Istanbul und ägäische Inseln, Oujda in Marokko: Nicht zufällig lagen die meisten Stationen einer transnationalen Aktionskette der letzten Monate an oder sogar jenseits der Außengrenzen der EU. Und sie hatten einen gemeinsamen Fokus: Frontex. Im Kampf um globale Bewegungsfreiheit wird die europäische Grenzschutzagentur 2011 erneut zum Ziel von Protestaktionen: in Mali und im Senegal.

Welcome to Europe – kurz: w2eu – nennt sich das kleine, aber rege bundesweite Netzwerk antirassistischer Gruppen, das sich 2009 rund um die Mobilisierung zum Nobordercamp in Griechenland formiert hatte. Lesbos steht nicht nur für einen erfolgreichen Kampfzyklus gegen die Internierung an den EU-Außengrenzen (vgl. ak Nr. 544). Bis heute sind viele der am Infopunkt von Mytilini geknüpften Kontakte mit Flüchtlingen und MigrantInnen nicht abgerissen, vielmehr finden sie im Widerstand gegen die Dublin-II-Verordnung quer durch Europa ihre Fortsetzung.

Und diesem anhaltenden „Lesbos-Impuls“ war es auch geschuldet, dass w2eu im April dieses Jahres einen Aufruf verbreitete, mit dem versucht wurde, eine ganze Kette von Mobilisierungen unter dem Titel „5 Jahre Frontex – 5 Jahre Ceuta und Melilla“ inhaltlich und praktisch zu verknüpfen.

Sieben Stationen von Warschau bis Oujda

Im Mai gelang in Warschau die zumindest symbolische Störung einer Frontex-Propagandaveranstaltung zu ihrem 5-jährigen Bestehen. Mehrere Firmen, von Frontex eingeladen, präsentierten ihre Grenzüberwachungstechniken, als ein Go-In mit Megaphondurchsagen und Transparenten für einigen Wirbel sorgte.

Im Juni gab es in London und am Wiener Flughafen Proteste, die sich gegen die zunehmend von Frontex finanzierten und koordinierten Charterabschiebungen richteten. Gleichzeitig fand in Jena das Karawane-Festival zum Gedenken an die Toten der Festung Europa statt. In einer beeindruckenden, vor allem von selbstorganisierten Flüchtlingen gestalteten Maskenparade wurde nicht zuletzt Frontex als „Jäger der Boatpeople und Sans-Papiers“ denunziert.

Anfang Juli fand das 6. europäische Sozialforum (ESF) in Istanbul statt und damit erstmals außerhalb der EU-Grenzen. Menschen fliehen aus und zunehmend über die Türkei, das Land hat sich in den vergangenen Jahren zu einer zentralen Transitstation der Migration entwickelt. Die EU macht auf allen Ebenen Druck, am Bosporus einen neuen Wachhund zu formieren, Frontex führt direkte Kooperationsverhandlungen. Vor diesem Hintergrund gab es nicht nur eine Reihe von Migrations-Workshops auf dem ESF, sondern auch eine kleine, aber powervolle Demonstration vor einem Abschiebegefängnis, bis vor kurzem nach offizieller Sprechweise „Guesthouse“ genannt.

Ende August startete mit Swarming Noborder ein kleines, dezentrales Folgeprojekt des Lesbos-Camps. Allerdings hatte sich in diesem Jahr die zentrale Flüchtlingsroute nicht nur für Frontex sondern auch für uns überraschend schnell und massiv von den Inseln auf die Festlandgrenze zwischen der Türkei und Griechenland verschoben (1). Fast keine Flüchtlinge kamen auf den Inseln an, insofern blieben auch die geplanten Protestaktionen sehr symbolisch.

Ende September begann in Brüssel ein Nobordercamp, aus dem heraus trotz aller Repressionen (siehe letzter ak 554) u.a. eine hochrangige Frontex-Tagung gestört werden konnte.

Schließlich fand Anfang Oktober in Oujda in Marokko eine Konferenz zum 5. Jahrestag der tödlichen Ereignisse in Ceuta und Melilla statt. Öffentlichkeitswirksam vorbereitet gelang es damit nicht nur – u.a. mit einem Vortrag eines damals beteiligten Flüchtlings – die mörderischen Konsequenzen der EU-Migrationspolitik sowie die Kollaboration der marokkanischen Regierung in Erinnerung zu halten. Erstmals war  es auch möglich, die Kritik an Frontex in den wichtigsten marokkanischen Fernsehsender zu bringen. Für die interne Vernetzung war zudem von Bedeutung, dass zahlreiche Selbstorganisationen von Flüchtlingen aus Rabat vertreten waren, aber auch Aktivisten aus Mauretanien und Mali.

Next Stations: Bamako und Dakar

Denn die (migrationsbezogene) euro-afrikanische Kooperation, die sich in den letzten Jahren mit gegenseitigen Besuchen stabilisiert hatte, steuert für Anfang 2011 auf ein neues transnationales Projekt zu. Im jungen Netzwerk Afrique-Europe-Interact ist eine Karawanetour für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen in Vorbereitung, die in der malischen Hauptstadt Bamako starten wird. Die AME (2), über viele Jahre aktiv, bildet den organisierenden Kern. Geplant sind mindestens 5 Stationen einer Bustour, die mit dem Untertitel „für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung“ nicht allein Migrationsfragen, sondern auch deren Hintergründe wie z.B. die Situation in der Landwirtschaft oder den Klimawandel thematisieren wird. Nicht zufällig endet die Route in Dakar, der senegalesischen Hauptstadt, in der Anfang Februar das nächste Weltsozialforum stattfindet. Migration und Entwicklung sind dort bereits als zentrale Schwerpunkte gesetzt, und die Karawanetour will mit dafür sorgen, dass die Kritik am EU-Grenzregime, das mit der Frontex-Operation Hera unmittelbar vor der Küste Senegals präsent ist, möglichst laut und scharf sein wird.

Aus Deutschland wird sich eine mindestens 30-köpfige Delegation auf den Weg nach Westafrika machen, darunter einige (Ex)Flüchtlinge, die hier in den letzten Jahren die antirassistischen Kämpfe mitgetragen haben und ihre unmittelbaren Erfahrungen in den direkten Austausch mit den AktivistInnen in Afrika einbringen wollen (siehe: http://www.afrique-europe-interact.net/).

h., kein mensch ist illegal/Hanau

Anmerkungen:

* In der Doppeldeutung von „keine Grenze ist für immer“ und „No Border-Kämpfe gehen immer weiter“.

(1) Ende Oktober hat die griechische Regierung die schnellen Eingreiftruppen von Frontex angefordert, der erste Einsatz dieser sog. „Rapids“, siehe auch w2eu.net

(2) AME: Assoziation der Abgeschobenen aus Mali

No Border lasts forever (II)

Konferenz zu Bilanz und Perspektiven antirassistischer Bewegung

Visionen, Vernetzung, Verbreiterung – gleich drei Vs stehen für die Zielsetzungen einer ambitionierten bundesweiten Konferenz, die vom 10. – 12.12. in Frankfurt am Main stattfinden wird.

Die Initiative entstand im Welcome to Europe-Network, doch dem Programm ist zu entnehmen, dass verschiedenste antirassistische Projekte, Kampagnen und Netzwerke am Vorbereitungsprozess beteiligt sind oder jedenfalls ihre Kommen zugesagt haben. Das erscheint umso bedeutender als die Frage nach „Vielfalt oder Zersplitterung“ zwar keine neue aber auch keine überholte ist im Feld von Flucht und Migration. In vielen Städten arbeiten Initiativen zu ganz unterschiedlichen Themen, doch die Kluft zwischen Gesamtpotential und realer gemeinsamer oder zumindest aufeinander bezogener Praxis wird deutlich, wenn auch die breiter angelegten Mobilisierungen der vergangenen Jahre selten über einige hundert TeilnehmerInnen hinauskommen.

Vielfalt oder Zersplitterung“

Anfang Juni fand in Jena das Karawane-Festival statt, an dem sich etwa 6-800 AktivistInnen vor allem aus dem Spektrum der Flüchtlings-Selbstorganisationen und einiger Antira-Gruppen beteiligten. Gleichzeitig trafen sich die medizinischen Unterstützungsprojekte aus 25 Städten zu einem Bundestreffen in Leipzig. Einen gegenseitigen Bezug gab es nicht, womöglich wussten Teile der jeweiligen TeilnehmerInnen schlichtweg nichts von dieser Parallelität.

Oder: In 5 Städten gibt es mittlerweile gewerkschaftliche Anlaufstellen für MigrantInnen mit und ohne Papiere. Das zeigt, dass zumindest in Teilen der Gewerkschaften ein inklusiver Umgang mit der (illegalisierten) Migration gesucht wird, und ist gleichzeitig ein allgemeiner Ausdruck für eine zunehmende Tendenz der Entkriminalisierung hierzulande. Doch diese Arbeit erscheint völlig getrennt von den vielfältigen Recherche- und Unterstützungsprojekten an den EU-Außengrenzen, wo die Kontrolle und Kriminalisierung der Migration – bis hin zur tödlichen Abschreckung gegenüber den Boatpeople –  seit Jahren eskaliert.

Die Frankfurter Konferenz zielt nicht nur auf eine stärkere gegenseitige Bezugnahme im „Kaleidoskop des Antirassismus“, wie der Titel einer Auftaktveranstaltung (am Freitag Abend) überschrieben ist. Inhaltliche Verknüpfungen entwickeln sich nicht zuletzt mit den persönlichen Kontakten, somit geht es gleichzeitig um ein verbreitertes Zusammentreffen unterschiedlicher Akteure. AktivistInnen aus dem Spektrum von kein mensch ist illegal oder der Karawane treffen regelmäßiger aufeinander. Doch im Dezember kommen ebenfalls Aktive von den Jugendlichen ohne Grenzen (JoG) oder vom akademischen Netzwerk „kritnet“ hinzu. Und mit medico international ist eine NGO mit auf dem Podium, die über ihren radikalen entwicklungspolitischen Ansatz  in migrationspolitische Projekte eingestiegen ist.

Multitude des Antirassismus?

„Für eine Multitude des Antirassismus?“ lautet denn auch die Leitfrage der Talkshow (am Samstag Abend), in der über Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ansätze und Herangehensweisen diskutiert wird. Die antirassistische Bewegung ist in den letzten Jahren (noch) vielfältiger und auch wieder jünger geworden. Frankfurt wurde u.a. deswegen als Konferenzort gewählt, weil hier – entlang der Mobilisierung nach Calais – eine neue Noborder-Gruppe entstanden ist, und im September eine gewerkschaftliche Anlaufstelle – MigrAr FfM – eröffnet hat. Die Chancen stehen gut, dass nicht nur aus Rhein-Main einige (Neu)Interessierte der Einladung folgen. Die Vortragsformate wie auch Informationsstände und ausreichende Pausenzeiten sind darauf angelegt, den Zugang zu den komplex erscheinenden Strukturen des Antirassismus zu ermöglichen bzw. eingefahrene Strukturen aufzubrechen.

Es wird in Frankfurt zwar Übersetzungen geben, aber Gäste aus anderen Ländern wurden nicht extra eingeladen, um die Konferenz nicht mit Ansprüchen zu überladen. Das Programm spiegelt gleichwohl wieder, dass antirassistische Bewegung nur in transnationaler Perspektive gedacht und praktiziert werden kann. Ein entsprechendes transeuropäisches Kontaktnetz ist in den letzten Jahren weiter gewachsen und hatte mit dem Nobordercamp auf Lesbos 2009 einen weiteren Schub bekommen. Seinen Ausdruck findet das in einem neuen, im Aufbau befindlichen Webguide unter www.w2eu.info, der in vier Sprachen betroffenen Flüchtlingen und MigrantInnen Zugang zu regionalen Unterstützungsprojekten und verbindliche Informationen quer durch Europa bieten will. Ein Ziel der Dezember-Konferenz ist insofern, die Netzpunkte und -knoten in Germany zu verdichten.

h., kein mensch ist illegal/Hanau